Tag des offenen Denkmals in Wiesbaden und Umgebung. Meine liebsten Nachbarn...
Tag des offenen Denkmals in Wiesbaden und Umgebung. Meine liebsten Nachbarn schleppen mich in die Innenstadt
zwecks Besichtigung der Kanalisation. Vorsichtshalber packe ich so lebensnotwendige Dinge wie Nüsse, Wasser und eine Zahnbürste ein. Vielleicht kommen wir vom Weg ab und gehen verloren und ich
muss zur Wegmarkierung ein paar Nüsse streuen. Vielleicht werden wir von einer plötzlich heran drängenden Wassermasse hinfort gespült, umtost von Exkrementklümpchen. Vielleicht entführen
uns Kanalisationsaliens bis zum warmen Kern der Erde. Mit frischem Atem hat man meiner Meinung nach bessere Chancen, Befreiungsverhandlungen erfolgreich zu führen. Jedenfalls bin ich gerne
gerüstet gegen die Unbillen des Lebens. Weil unglaublich viele Menschen begutachten wollen, wo die Produktionen der Schiss und Piss - Gesellschaft so landen, müssen wir fast eine Stunde auf die
Führung warten. Die dann mit einer Viertel Stunde leider recht kurz ist. Ich verlängere die Zeit, indem ich die Sicherheitstypen, die mit ihren orangen Westen herum stehen und aufgrund des
teilweise recht üblen Geruchs, dem sie den ganzen Tag ausgesetzt sind, keine begeisterte Miene tragen, jedenfalls indem ich diese grimmigen Typen vollschwalle. Und tatsächlich leiere ich ihnen
Adressen und Telefonnummern aus den Rippen, an die ich mich wenden kann, falls ich einmal ein privates Event hier unten feiern möchte. Ich dachte da an einen Kindergeburtstag. Und was habe ich an
diesem schönen Tag, 7 Meter unter der Erde gelernt?
Der Architekt, der 1889 für die Erbauung der unterirdischen Kanalisation zuständig war, war ein Genie. Die ausgeschachteten Tunnel sind vierfach verschalt, so daß auch bei großem Gewicht von oben
nichts einstürzen kann. Zum Bauen wurden doppelt gebrannte Backsteine verwendet, die bis heute ihre Farbe behalten haben und weitgehend säureresistent sind. Geplant wurde das Projekt mit größter
Weitsicht im Hinblick auf Zuwachsrate, Umwelt und weiterführende Kosten. 1889 lebten in Wiesbaden 50.000 Menschen, die Kanalisation wurde für 150.000 konzipiert. Die Wasserrückhaltebecken sind
für noch größere Wassermassen gebaut, falls sich das Klima ändert und mit mehr Platzregen, Gewittern u.ä. gerechnet werden muss. Instandhaltungskosten fallen kaum an, da die Wände so solide
stehen wie vor 120 Jahren. Die Reinigungskosten für die Rinnen, z.B. Abtragen und Reinigen der haftenden Exkremente zwecks Vermeidung von Gasbildung und Schwefel, der den Beton angreift, sind
recht hoch, aber nicht vermeidbar.
Wieso ist diese Art zu arbeiten, ein Projekt zu planen und durchzuführen, heute nicht mehr möglich? Wieso werden die Steine, die sich als so haltbar erweisen, heute gar nicht mehr
hergestellt? Abends in den Nachrichten: Der rheinlandpfälzische Ministerpräsident Kurt Beck weiht in Ludwigshafen das frisch sanierte Theater ein. Die Baumaßnahmen dauerten doppelt so lange
wie geplant und die Kosten "erhöhten sich um ein Vielfaches". Damit dem fern Sehenden nicht das Abendessen aus dem Körperinneren entschlüpft, vermeidet man genauere Zahlen. Vor 120 Jahren erschuf
ein Kerl ein Projekt, von dem die Menschen heute noch profitieren. Der Architekt hieß Brix, sein Ingenieur Frensch. Kaum einer, der die Namen kennt. Muss man auch nicht. Die Kanalisation
funktioniert heute noch und jedes Jahr wird mit einer Führung daran erinnert, daß früher einiges tatsächlich besser war als heute. Ich sitze vor der Glotze und frage mich: mit all unseren
technischen Neuerungen sind wir nicht in der Lage, Zukunftsorientiert und Generationenprofitabel zu handeln. Wieso ist das so? Sind die Menschen heute tatsächlich dümmer ?
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